Nur vollständige Transparenz und eine sorgfältige Prüfung der Daten können eine informierte Entscheidung herbeiführen, argumentiert Peter Doshi am 26. November 2020 in einem Kommentar im British Medical Journal:
In den Vereinigten Staaten sind alle Augen auf Pfizer und Moderna gerichtet. Die in Schlagzeilen präsentierten Ergebnisse zur Wirksamkeit der Covid-19-Impfstoffstudien sind auf den ersten Blick erstaunlich. Laut Pfizer wurden 170 Covid-19-Fälle (bei 44.000 Studienteilnehmern) dokumentiert, mit einer bemerkenswerten Verteilung: 162 Fälle in der Placebo-Gruppe gegenüber acht in der Impfstoff-Gruppe. Moderna gibt an, dass 95 von 30.000 Teilnehmern in der noch laufenden randomisierten Studie Covid-19 hatten: 90 in der Placebo-Gruppe gegenüber fünf in der Impfstoff-Gruppe, was beide Unternehmen dazu brachte, eine Wirksamkeit von je rund 95% für ihren Impfstoff zu reklamieren.
Diese Ergebnisse sollten wir differenzierter betrachten. Zunächst wird über eine relative, nicht über eine absolute Risikoreduktion berichtet, letztere dürfte unter 1% liegen. Zum anderen beziehen sich diese Ergebnisse auf den primären Endpunkt der Studien, nämlich das Auftreten einer Covid-19 Erkrankung jeden Schweregrads. Entscheidend ist aber, dass nichts über die Fähigkeit des Impfstoffs, Leben zu retten bekannt ist noch über seine Fähigkeit, Infektionen zu verhindern, noch über seine Wirksamkeit in besonders wichtigen Subgruppen, z.B. bei gebrechlichen älteren Menschen. Zudem spiegeln diese Ergebnisse einen Zeitpunkt relativ kurz nach der Impfung wider, weshalb wir nichts über die Wirksamkeit des Impfstoffs nach 3, 6 oder 12 Monaten erfahren. Somit können wir diese Wirksamkeitseinschätzungen nicht mit denen anderer Impfstoffe wie z.B. gegen Influenza vergleichen, die über eine Grippesaison beurteilt werden. Weiterhin wurden Kinder, Jugendliche und immungeschwächte Personen weitestgehend aus diesen Studien ausgeschlossen, so dass zu diesen wichtigen Bevölkerungsgruppen keinerlei Wirksamkeitsdaten vorliegen.
Schon früher habe ich darauf hingewiesen, dass in den Studien der falsche Endpunkt untersucht wird und dringend Nachbesserungen notwendig sind, damit bedeutsamere Outcomes wie die Prävention schwerer Krankheitsverläufe und die Frage von Ansteckungen bei Menschen in Hochrisikogruppen untersucht werden können. Obwohl Regulierungsmechanismen zur Verfügung stehen, die den raschen Zugang zu Impfstoffen ermöglichen ohne vollständige Zulassung, worunter Placebo-kontrollierte Studien so lange weitergeführt werden können, bis die wirklich wichtigen Fragen beantwortet sind, kann man sich derzeit nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Firmen vorschnell ihre Studien als Erfolgsgeschichte deklarieren und diese einfach abschließen. Pfizer hat an die Studienteilnehmer bereits einen Brief versandt, in dem die „Umstellung“ von Placebo auf Impfstoff vorgeschlagen wird. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA gerät damit unter enormen Druck, die Impfstoffe rasch zuzulassen.
Doch während sich die öffentliche Debatte ganz auf die Verteilung der Impfstoffe verlagert, sollten wir die tatsächliche Datenlage nicht aus den Augen verlieren. Eine unabhängige Überprüfung der Original-Studiendaten würde die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Ergebnisse stärken. Und wir sollten über wichtige methodische Schwächen und Einschränkungen bei der Interpretierbarkeit der Studienergebnisse Rechenschaft einfordern. Zentrale Bedeutung haben dabei die Belege einer intakten Verblindung, d.h. dass anhand der Original-Studiendaten nachvollzogen werden kann, ob oder ob nicht Prüfärzte Probanden realistische Annahmen machen konnten, zu welcher Gruppe sie gehörten. Eine intakte Verblindung ist bei der Messung subjektiver Endpunkte wie z.B. bei Covid-19 Symptomen besonders wichtig, aber auch bei der Beurteilung lokaler Nebenwirkungen nach der Injektion von Impfstoff oder Placebo, denn ohne zuverlässige Verblindung können leicht Vermutungen über die Gruppenzugehörigkeit angestellt werden. Frühere Placebo-kontrollierte Studien mit einem Grippeimpfstoff waren nicht in der Lage, die Verblindung des Impfstatus vollständig aufrechtzuerhalten, und das jüngste Missgeschick mit der „halben Dosis“ in der Oxford Covid-19-Impfstoffstudie wurde offenbar nur wegen milder als erwarteten Nebenwirkungen bemerkt. Und das ist nur eine von vielen Bedenken bezüglich der Oxford-Studie.
Frühe (Phase 1 und 2) Studien ergaben, dass systemische und lokale unerwünschte Ereignisse bei Impfstoff-Empfängern – im Gegensatz zu Empfängern von Placebo (Kochsalzlösung) häufig auftraten. Zum Beispiel litten mehr als die Hälfte der geimpften Teilnehmer in einer Pfizer-Studie an Schüttelfrost, Kopf-, und Muskelschmerzen – aber die Studien der frühen Phase waren klein, daher mit großer Irrtumswahrscheinlichkeit behaftet. Aus den großen Phase-3-Studien sind bisher nur wenige Details zu Nebenwirkungen bekannt geworden. In der Pressemitteilung von Moderna heißt es, 9% der Probanden hätten eine Myalgie (= Muskelschmerzen, Anm. 2020News) dritten Grades und 10% eine Müdigkeit dritten Grades angegeben; die Pressemitteilung von Pfizer berichtete, dass bei 3,8% eine Müdigkeit dritten Grades und bei 2% Kopfschmerzen dritten Grades auftraten. Unerwünschte Ereignisse dritten Grades gelten als schwerwiegend und sind als Ereignis definiert, welches die Verrichtung täglicher Aktivitäten verhindert. Leichte und mittelschwere Reaktionen dürften mit Sicherheit weitaus häufiger auftreten.
Eine Methode, wie die Rohdaten der randomisierten Studie ein informiertes Urteil darüber erleichtern könnten, ob eine mögliche Entblindung die Ergebnisse beeinflusst haben könnte, besteht darin, zu analysieren, wie oft Personen mit Covid-19 Symptomen zur Bestätigung der Diagnose zu einem SARS-CoV-2-Test überwiesen wurden. Ohne eine solche Überweisung könnte ein Verdachtsfall auf Covid-19 nicht zu einem bestätigten Covid-19-Fall werden und deshalb ist diese Überweisung ein entscheidender Schritt, damit aus einem Verdachtsfall ein Primärereignis wird: d.h. eine labormedizinisch bestätigte, symptomatische Covid-19 Erkrankung. Da einige der unerwünschten Reaktionen auf den Impfstoff ihrerseits gleichzeitig Symptome von Covid-19 sind (z.B. Fieber, Muskelschmerzen) sollte man erwarten, dass bei einem weitaus größeren Anteil der Personen, die den Impfstoff erhalten haben, Abstriche gemacht und diese auf SARS-CoV-2 getestet wurden als bei denjenigen, die Placebo erhielten.
Dies setzt allerdings voraus, dass alle Studienteilnehmer mit Symptomen auch getestet werden, so würde man jedenfalls annehmen. Die Studienprotokolle für die Studien von Moderna und Pfizer enthalten jedoch explizite Formulierungen, die die Prüfärzte anweisen, ihr klinisches Urteilsvermögen zu nutzen, um zu entscheiden, ob Personen zur Testung überwiesen werden sollen. Moderna drückt es so aus:
„Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass einige Symptome von COVID-19 sich mit unerwünschten systemischen Nebenwirkungen (engl. „adverse reactions“, ARs) überschneiden, die nach der Impfung mit mRNA-1273 erwartet werden (z.B. Myalgie, Kopfschmerzen, Fieber und Schüttelfrost). In den ersten 7 Tagen nach der Impfung, also in dem Zeitraum in dem diese zu erfragenden Nebenwirkungen (ARs) häufig sind, sollten die Prüfärzte ihre klinische Erfahrung nutzen, um zu entscheiden, ob ein Abstrich im Nasen-Rachenraum gemacht werden sollte. ”
Dies läuft darauf hinaus, dass Prüfärzte aufgefordert werden, Vermutungen darüber anzustellen, in welcher Gruppe sich die Probanden befinden. Wenn sich aber die Symptome der Krankheit und die Nebenwirkungen des Impfstoffs überschneiden, wie soll ein Arzt dann ohne Test beurteilen, welche Ursache die Symptome haben? Und warum werden die Prüfärzte überhaupt dazu aufgefordert?
Wichtig ist auch, dass sich die Anweisungen an die Untersucher nur auf die ersten sieben Tage nach der Impfung beziehen, so dass unklar bleibt, welche Rolle das ärztliche Urteil in den entscheidenden Tagen danach spielen könnte, wenn die dann auftretenden Covid-19 Fälle zur Ermittlung des primären Endpunktes beitragen würden. (Bei Pfizer 7 Tage nach der 2. Dosis, bei Moderna 14 Tage).
In einer lege artis durchgeführten Studie hätten alle Covid-19- Fälle dokumentiert werden müssen, egal in welchem Studien-Arm sie auftraten. (In der Fachsprache der Epidemiologie ausgedrückt, darf es weder eine Verzerrung bei der Erfassung eines Falles (engl. ascertainment bias) noch einen differentiellen Messfehler geben). Dieser Gedanke ist in Covid-Zeiten sogar in das Allgemeinwissen übergegangen: „testen, testen, testen.“ Wenn aber nicht alle Personen mit Symptomen für Covid-19 zum Testen überwiesen wurden – z.B. weil man davon ausging, dass die Symptome auf Nebenwirkungen des Impfstoffs zurückzuführen waren -, könnten Covid-19 Fälle systematisch übersehen worden sein.
Auch die Daten zu schmerz- und fiebersenkenden Medikamenten verdienen eine Überprüfung. Symptome, die auf eine SARS-CoV-2-Infektion zurückzuführen sind (z.B. Fieber oder Körperschmerzen) können mit schmerz- und fiebersenkenden Medikamenten unterdrückt werden. Wenn die Personen in der Impfstoffgruppe solche Medikamente prophylaktisch, häufiger oder über einen längeren Zeitraum als die Personen in der Placebo-Gruppe eingenommen hätten, würde dies zu einer stärkeren Unterdrückung solcher Symptome nach SARS-CoV-2-Infektion in der Impfstoffgruppe führen, was sich in einer geringeren Wahrscheinlichkeit des Verdachts auf Covid-19, einer geringeren Wahrscheinlichkeit getestet zu werden und damit einer geringeren Wahrscheinlichkeit, den primären Endpunkt zu erreichen, niedergeschlagen hätte. In einem solchen Szenario wäre die Wirkung offensichtlich auf die Medikamente, und nicht auf den Impfstoff zurückzuführen. Weder Moderna noch Pfizer haben schriftliches Informationsmaterial, das den Studienteilnehmern zur Verfügung gestellt wurde, freigegeben, so dass unklar ist, welche Anweisungen, wenn überhaupt, den Probanden bezüglich der Verwendung von Medikamenten zur Behandlung von Nebenwirkungen nach der Impfung gegeben wurden; allerdings enthält die Einverständniserklärung für die Impfstoffstudie von Johnson and Johnson eine solche Empfehlung:
„Nach Verabreichung von Ad26.COV2.S können Fieber, Muskelschmerzen und Kopfschmerzen bei jüngeren Erwachsenen häufiger auftreten und schwerwiegend sein. Aus diesem Grund empfehlen wir Ihnen die Einnahme eines Fiebersenkers oder Schmerzmittels, wenn nach der Impfung Symptome auftreten oder wenn ihr Studienarzt ihnen dies empfiehlt.“
Möglicherweise ist die Ankündigung „95% wirksam“ weitaus komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint – oder vielleicht auch nicht. Nur vollständige Transparenz und eine sorgfältige Prüfung der Daten werden eine fundierte Entscheidungsfindung ermöglichen. Die Daten müssen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Peter Doshi, Associate Editor, The BMJ.
Konkurrierende Interessen: Ich habe mich für die öffentliche Freigabe von Protokollen von Impfstoffstudien eingesetzt und habe offene Briefe mitunterzeichnet, in denen Unabhängigkeit und Transparenz bei der Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Impfstoffen gegen Covid-19 gefordert werden.
Übersetzung: Ulrich Keil, Universität Münster, Angela Spelsberg, Tumorzentrum Aachen e.V.